Ich war letzten Sonntag auf einem Achtsamkeitsseminar.
Warum?
Achtsamkeit ist ja momentan in aller Munde und jetzt bin ich
nicht so unbedingt der Trendsetter, der jeden neuen Hype mitmachen muss, aber
ich probiere gern neue Sachen aus und ein Arbeitskollege, der schon so ein
ähnliches Seminar besucht hat, ist immer die Ruhe selbst und mit sich selbst
sichtbar im Reinen. Und das wollte ich auch mal probieren.
Setting
Ich betrete den Raum der VHS und mich erwartet ein Mann in den
mittleren Jahren mit T-Shirt, Jogginghosen und Barfüßchen und Spitzbart.
Ulrich. Ulrich ist unser Yogalehrer.
Die anderen
Teilnehmer wir sind nur 5 von angemeldeten 12, sind eher ein
stilles Grüppchen. Eine Frau mit Dr.-Titel, ein Mann, der den Kurs von seiner
Schwiegermutter geschenkt bekommen hat (was mir mehr Fragezeichen aufwirft als
Antworten z.B. Warum ist nur er hier und nicht seine Frau oder seine
Schwiegermutter und dass ich z.B. Ausrasten würde, wenn meine Schwiegermutter
mir so etwas schenken würde) und 2 Freundinnen, wobei eine total offen für
alles ist und die andere im starken Berliner Dialekt ihren Unmut und die
Nichtwirksamkeit des Seminars schon im Vorfeld verkündet. Tja und ich.
Kurzer Fluchtgedanke
So weit so gut, als wir die Vorstellungsrunde beendet haben, alle
im Schneidersitz auf unseren Turnmatten und Meditationskissen sitzend, möchte
Ulrich einen "Auszeit-Engel" bestimmen. Dieser Engel soll die
Schwingungen der Gruppe erfühlen und eine Pause verordnen, wenn die Energie im
Raum nicht mehr stimmt. Es meldet sich niemand und ich bin kurz davor, meine
Sachen zu packen und zu gehen. "Auszeit-Engel", also wirklich. Ich
dachte wirklich, sowas gibt es nur im Fernsehen.
Die Übungen
Wir lernen den Bodyscan kennen, wo ich fast einschlafe und danach
fix und fertig bin. Also wenn das Entspannung ist, dann ist Entspannung wohl
doch nichts für mich.
Wir lernen Sequenzen, aus dem Yoga kennen, wo ich besonders das
"Nachspüren" nach jeder Übung interessant fand. Wie fand mein Körper
das jetzt, als ich das Bein nach links gestreckt hatte, wie fühlte es sich an?
Wie fühlt es sich jetzt an? Manchmal waren sowohl mein Geist als auch mein
Körper ratlos.
Und zu guter Letzt Mediation. Wir machen Atemübungen und eine
Gehmeditation. (Wo Mrs. Berliner Dialekt sich nach 1 Minute wieder hinsetzt,
während wir anderen von Ulrichs Stimme geführt durch den Raum bewusst und achtsam
gehen, den Blick immer 1-1,5 m vor uns gerichtet.)
Interessant ist hier auch, dass wir zwar 5 Schüler waren, Ulrich uns
aber immer mit „du“ redete. Also "du spürst jetzt, du atmest ganz ruhig
ein usw." Ich fühlte mich immer irgendwie nicht angesprochen. Wir waren
doch eine Gruppe und welches DU war jetzt ICH? Aber das wird jetzt zu
philosophisch.
Die 3,2,1-Meditation, die mit Ebay wohl nichts zu tun hat, war
auch nicht ganz meins. Man sollte sich erst auf 3, dann auf 2 und dann auf 1
Sache im Raum konzentrieren, die man hört und sieht. Also bewusst wahrnimmt. Da
außer Ulrichs Stimme und das laute Atmen der Doktorin nichts zu hören war (dass
die ganze Zeit nach der Mittagspause der Bauch der Frau Doktorin komische
Geräusche machte, erzähle ich hier lieber nicht), war die Übung schwierig für
mich.
Cranberry
Und was war jetzt eigentlich mit der Rosine mögt ihr euch fragen?
Tja, das war Teil einer Essensmeditation. Wir durften uns jeder eine Nuss,
Rosine oder Cranberry aus einer Tüte Studentenfutter nehmen. Und dann fühlten
wir die Rosine und rochen an ihr und betrachteten sie mit Liebe. Als Ulrich
dann aber meinte, jetzt halten wir die Rosine an unser Ohr. Konnte ich nicht
mehr an mich halten und kringelte mich vor Lachen am Boden. - ich wurde ignoriert
- Wir sollten jetzt hören, was die Rosine für Geräusche macht, wenn wir sie
drücken oder quetschen. Mir schossen Gedanken durch den Kopf, wie "gleich
fragen wir die Rosine wie es ihr geht und ob sie etwas dagegen hat, wenn wir
sie gleich essen" oder "meine Rosine sagt mir gleich, dass sie
eigentlich eine Cranberry ist und keine Rosine."
Es war herrlich. Letztlich durften wir sie mit den Lippen
berühren und spüren und 1x raufbeißen und dann aufessen und mit der Zunge die
Reste der Rosine ertasten. Oh man, die weiteren Details erspare ich euch.
Gefragt nach unserer Meinung, erzählte ich von meinen
"abtrünnigen" Gedanken. Ulrich ganz cool: "und wo warst du
gedanklich die letzten 30 Minuten?" Ich "ganz bei der Rosine".
Ulrich: "Ziel erreicht." Und das verblüffte mich, denn er hatte recht.
Ich hatte doch tatsächlich 30 Minuten mal keine Pläne gemacht und mich somit ganz
im Hier und Jetzt befunden.
Fazit
Es war total abgefahren und eine völlig neue Erfahrung für mich.
Normalerweise plane ich 110% meines Tages durch. Und sich dann einfach mal
einen ganzen Sonntag nur mit sich selber und dann noch genau im Hier und Jetzt
zu spüren und zu fühlen, ist etwas ganz Neues.
Ich werde wahrscheinlich noch eine ganze Weile bei dem Anblick
einer Rosine in schallendes Gelächter ausbrechen. Aber genauso lange und oft
hoffe ich doch, ab und zu mal innehalten zu können, sei es bewusstes
Treppenlaufen (Ulrich) oder einfach mal ruhig und bewusst atmen und den Blick
in die Ferne schweifen lassen.
Denn „Die Meisten verwechseln Dabeisein, mit Erleben.“ (Max
Frisch)
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